image 2022 08 21 00:10:51

Das vererbte Trauma der Kriegsenkel

Eine Rezension zur Neuausgabe des Kriegsenkelbuches von Anke

Mit freudiger Neugier hielt ich endlich das liebevoll gestaltete Büchlein (203 Seiten) in den Händen – ein angenehmes Gefühl. Der Inhalt mit seinen geballten Erkenntnissen lädt ein, gelesen zu werden, ist aber auch überschaubar und handlich genug verpackt, um nicht überfordernd zu sein ob der Menge – denn das Thema hat es in sich.

Ursprünglich ist die Niederschrift mit einem Vorwort von Prof. Dr. Franz Ruppert als Begleitbuch zu einem Online-Kongress entstanden: dem Kriegsenkel-Kongress 2020. Die überarbeitete Neuauflage enthält neben der berührenden Familiengeschichte der Autorin klar gegliedert Essenzen aus 24 Experten-Interviews, die sich dem Thema von unterschiedlichen Seiten nähern und alle reich an vermitteltem Wissen, Impulsen, Anregungen und Fragen zur Aufarbeitung der Vergangenheit sind. Komplexe Zusammenhänge sind leicht lesbar dargestellt. Anleitungen, Übungen und Meditationen sowie eine Literaturauswahl und die Adressen der Internetseiten der Autorin (auch zum Kriegsenkel-Blog) finden sich am Schluss.

Dieses Buch möchte Bewusstsein für transgenerationales Trauma schaffen. Es wendet sich sowohl an „Einsteiger“ als auch an Menschen, die das Thema vertiefen möchten, um den Weg der Heilung zu gehen. Durch Beschäftigung mit diesem Sachverhalt findet der Leser/die Leserin vielleicht erste Antworten auf oft lebenslang quälende Fragen. Allein das Lesen des Buches ist heilsam, denn es ermöglicht Verständnis und Verständnis hilft zu heilen.

In liebevoller Kleinarbeit haben die beiden Autorinnen die Essenzen der Interviews aufgeschrieben. Es sind 24 verschiedene Perspektiven der Annäherung und des Umgangs mit dem Thema entstanden. Beim Lesen offenbart sich bisweilen etwas, was sich im eigenen Leben bisher nicht greifen ließ, aber immer (er)drückend da war. Die emotionale Abwesenheit der eigenen Eltern lässt sich plötzlich verstehen: eine ganze Generation hat im „Überlebensmodus“ gelebt – aber „Leben ist mehr als Überleben“.

Wegen fehlender emotionaler Anwesenheit konnten uns die traumatisierten Eltern oft nicht (ausreichend) Mitgefühl entgegenbringen. Der Krieg und die damit verbundenen Ereignisse hatten sie in einen Überlebensmodus versetzt, in dem Mitgefühl rein physiologisch nicht möglich ist. Dadurch konnte das Grundbedürfnis des Kindes nach Bindung (sich verstanden, angenommen, geborgen und sicher fühlen) leider oft nicht ausreichend befriedigt werden. Transgenerationales Trauma äußert sich heute vielleicht in Beziehungsschwierigkeiten, mangelndem Vertrauen, Angstsymptomen, unverständlichen Gefühlen bis hin zu unerklärlichen Symptomen auf der Körperebene.

Die Interviewten erzählen neben ihrer biographischen Betroffenheit und ihrem Heilungs-Weg auch von ihren verschiedenen Werkzeugen, mit denen sie seit Jahren oder Jahrzehnten arbeiten, um Menschen Heilung und damit einen Zugang zu ihrem wahren Wesen und ihrem Potential zu ermöglichen. Das sind Mittel wie (Familien-) Aufstellung, Klopfakupressur, EMDR, autobiographisches Schreiben, Zeichnen, Tönen und viele andere.

So ist ein Buch entstanden, das man nicht in einem Zug durchliest, sondern das einlädt, sich seinem Kriegsenkel- bzw. Kriegsurenkel-Sein immer wieder neu von verschiedenen Seiten zuzuwenden und langsam anzunähern. Wir erfahren hier Herangehensweisen, Methoden und Mittel um uns dem Alten stellen zu können, Kriegstraumata anzusehen und Altlastenaufzulösen. Dadurch vermögen wir letztlich mehr im Hier & Jetzt zu landen. Denn wenn wir Verständnis für unsere Ahnen aufbringen, kann unser (Selbst-)Mitgefühl wachsen.

Für mich gab es in diesem Buch auch eine Wiederbegegnung mit Menschen, deren Arbeit in Form von Büchern, Meditationen oder Impulsen meinen eigenen Heilungsweg seit Jahren begleitet. Beim Lesen der Kriegsenkel-Geschichten der Autorinnen bekam ich Gänsehaut. Die Aussprüche des Vaters kenne ich ähnlich auch von meinem Vater. Aber erst nach über 50 Jahren habe ich verstanden, woher das kam und was er damit meinte.

Alles in allem halte ich „Kriegsenkel – Trauma erkennen, verstehen und heilen“ für ein sehr wertvolles Buch, das uns befähigen kann, durch Ahnenheilung und posttraumatisches Wachstum mehr in unsere Kraft zu kommen, unsere Potentiale besser zu leben und mehr Gesundheit zu erfahren. Es eignet sich zum einen für die wohlwollende Beschäftigung mit der eigenen Vergangenheit und zum anderen vielleicht auch als anregendes Geschenk für unsere Mitmenschen, sofern sie sich auf den Weg zu sich selbst machen möchten oder bereits auf ihm sind.

Auch meiner persönlichen Einschätzung nach MUSS es, individuell und kollektiv gesehen, Trauer und Aufarbeitung geben, da Trauma, Krieg und Terror sich sonst wiederholen werden. So ist das Buch auch unter diesem Gesichtspunkt in der gegenwärtigen Zeit ein kostbarer Beitrag zum Frieden: im eigenen Herzen und somit in der Welt.

3 Kommentare zu „Das vererbte Trauma der Kriegsenkel“

  1. Liebe Leuchtkugel und liebe Manuela Sophia,
    Danke für eure Kommentare – sie haben mein Herz zum Leuchten gebracht 💖
    Ich wünsche uns Freude, Klarheit und Frieden auf dem Weg der Heilung!
    Alles Liebe
    Anke

  2. Liebe Anke, sehr umfassend, schön und von Innen heraus geschrieben.
    Danke für deine Rezession ♡

    Ich lese seit gestern im Buch und entdecke: Es ist bereits von der ersten Berührung mit den Buchseiten, als halte ich ein Wesen in den Händen.
    Ein Wesen, mir nahe stehend und ich ahne, es sind die Ahnen!!
    Die Ahnen meines Volkes, die Ahnen meiner Sippe.
    Ich bin sehr berührt, freue mich auf die Begegnungen.

    Dankbare Grüße, manuela sophia

  3. Wow, liebe Anke, was für eine wundervolle Rezension dieses kostbaren Buches!!!! Schöner und klarer hätte man es nicht ausdrücken können.
    Ich lese das Buch Stück für Stück, in einem Rutsch ist es irgendwie zu viel.
    Ich hatte mir auch überlegt, eine Rezension zu schreiben, aber deine ist soooo gut und klar und umfassend, dass ich nichts Neues oder Anderes dazu sagen könnte.

    Viel Mut, Klarheit und Neues in Deinem Leben, im Leben aller Lesenden, und selbstverständlich im Leben der beiden mutigen Autorinnen, die damit so viel zu einer besseren und klareren Welt beigetragen haben.
    Liebe Grüsse
    Leuchtkugel

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