Kriegsenkel Kongress Franz Ruppert

Trauma ist keine Krankheit

Prof. Dr. Franz Ruppert war als Gesprächspartner beim ersten Online-Kriegsenkel-Kongress dabei. Er erzählt  aus seiner eigenen Kriegsenkel-Betroffenheit  und hilft uns zu verstehen, was genau ein Trauma ist und wie die menschliche Psyche auf traumatische Erlebnisse reagiert. Was bedeutet Trauma für den Einzelnen und und welche Überlebensstrategien werden entwickelt, um mit einem Trauma weiterleben zu können – und natürlich die Frage, wie wir Trauma begegnen und heilen können. 

Das Kapitel zu dem Gespräch, aus dem Buch „Kriegsenkel: Trauma erkennen – verstehen und heilen“ 

Franz Ruppert ist Professor für Psychologie, Psychologischer Psychotherapeut und ein weltweit gefragter Traumatherapeut. Er hat zahlreiche Bücher verfasst, die in mehrere Sprachen übersetzt wurden. Lange Zeit war er überzeugt, eine schöne Kindheit gehabt zu haben. Nachdem er bereits Jahre als Professor für Psychologie gearbeitet hatte, wurde er mit seinen eigenen Traumatisierungen konfrontiert. 

Zuvor war ihm das schwere Schicksal seiner Eltern zwar bewusst, er brachte dieses allerdings nicht mit seinen Schwierigkeiten in Verbindung. Nach einigen gescheiterten Beziehungen wurde ihm klar, in welch hohem Maße ihre Erlebnisse doch auch sein Leben beeinflusst hatten. Abgespalten von ihren Gefühlen, ständig gestresst und in Überlebensstrategien gefangen, hatten die Eltern ihrem Sohn keine körperliche Nähe, emotionale Zuwendung, Liebe und Orientierung geben können. 

Franz Rupperts Vater war elf Jahre alt, als die Flucht aus dem Sudetenland unumgänglich wurde. Wenn der Vater davon erzählte, klangen die Erlebnisse keineswegs dramatisch. Die Flucht brachte er dabei niemals mit dem Krieg in unmittelbare Verbindung. Zeit seines Lebens machte ihm der Verlust der Heimat schwer zu schaffen. 

Seltener wurde das Schicksal der Familie der Mutter thematisiert, deren Vater den Polenfeldzug miterlebt hatte, später in Kriegsgefangenschaft geraten war und wenige Jahre nach seiner Rückkehr bei einem Arbeitsunfall tödlich verunglückte. Zwei ihrer Onkel kamen aus dem Krieg nicht zurück. Der Tod ihres Vaters be-drückte sie ihr Leben lang und zeigte sich in Niedergeschlagenheit und tiefen Ängsten. 

Beide Elternteile agierten ihre unverarbeiteten Traumata in Form von Wut und Aggressionen gegenüber ihren Kindern aus. 

Die Erfahrungen aus seiner lieblosen Kindheit veranlassten Franz Ruppert dazu, Psychologie zu studieren, in dem Fach zu promovieren und später, nachdem er seine eigene Traumatisierung erkannt hatte, Psychotraumatherapeut zu werden. 

Seit über 25 Jahren erforscht er die Auswirkungen von Traumata auf die menschliche Psyche. Er hat eine eigene identitätsorientierte Psychotraumatheorie (IoPT) entwickelt und daraus eine Methode zur Auflösung von Problemen abgeleitet: die „Anliegen-Methode“.

Was genau ist ein Trauma?

Das Wort „Trauma“ entstammt dem griechischen Wort für „Wunde“ und wird in der Medizin für Verletzungen oder Schädigungen verwendet, die durch Gewalteinwirkung, z. B. durch einen Unfall, verursacht werden.

Ein Psychotrauma ist eine seelische Verletzung, die durch ein traumatisierendes Erlebnis eine dauerhafte Spaltung der Psyche hervorruft. Die klassische Definition ist: „Ein Zustand von Ohnmacht, überwältigt sein, Hilflosigkeit, Ausgeliefertsein“, eine Situation einer emotional-geistigen Überforderung, aus der sich der Betroffene nicht selbst befreien kann.

Die Psyche schaltet dabei auf einen Trauma-Notfallmechanismus um, der die Realität umdeutet und die Situation erträglicher erscheinen lässt. Nach einem Trauma spaltet sich die menschliche Psyche in drei Anteile:

– den gesunden Anteil, mit dem die Psyche die Realität erfassen und regulieren kann 

– den traumatisierten Anteil, in dem unerträgliche Gefühle (z. B. Angst, Schmerz, Ekel, Wut) abgekapselt und damit unterdrückt werden

– den Überlebensanteil, mit dessen Hilfe das Trauma wie in einem Nebel verdeckt und durch eine Illusionswelt ersetzt wird. 

Die Aufgabe der Psyche eines Menschen liegt darin, die Realität im Außen durch Wahrnehmen, Denken und Fühlen zu erschließen und einen Einklang mit dem Innen und dem bisher Erfahrenen aufrechtzuerhalten. Ist die Psyche traumatisiert, gerät sie in einen folgenschweren Konflikt und kann ihre moderierende Aufgabe nicht mehr erfüllen. Sie schaltet in einen Notfallmechanismus, der das Erlebte umdeutet, damit die Situation erträglich und weniger bedrohlich erscheint. 

Für den Traumatisierten hat dies gravierende Folgen: Der Kontakt zu seiner Innen- und Außenwelt wird eingeschränkt, der Bezug zur Realität und die Möglichkeit, sich selbst zu regulieren, schwinden. Mit dem Verlust der Wirklichkeit schwindet ebenso die Fähigkeit, klare Gedanken zu fassen und Gefühle ungefiltert wahrzunehmen. In diesem Zustand ist der Traumatisierte kaum in der Lage, konstruktive und hilfreiche Entscheidungen für seine Zukunft zu treffen. 

Trauma ist keine Krankheit

Bedauerlicherweise wird das Konzept Trauma von der Gesellschaft bislang mit einer gewissen Scheu betrachtet und mit „Psychischer Erkrankung“ in Verbindung gebracht. Menschen, die therapeutische Hilfe suchen, werden zuweilen von ihren Mitmenschen belächelt.

Wir leben in einer traumatisierten Gesellschaft und niemand muss sich dafür schämen, Opfer von Gewalt geworden zu sein oder unter den Kriegstraumata seiner Eltern zu leiden. 

Ein Trauma ist keine psychische Krankheit, sondern entsteht durch ein Erlebnis, welches den Betroffenen überwältigt und seine Seele verletzt. Ein traumatisierter Mensch ist daher kein landläufig „kranker“ Mensch, sondern vielmehr jemand, der mit seinen psychischen Ressourcen die traumatisierende Situation überlebt hat. Der Begriff „Trauma“, wird er richtig verwendet, ist kein Stigma – er ist eine Erklärung. 

Für Klienten mit einer Psychiatrie-Geschichte ist es zutiefst erleichternd, wenn Franz Ruppert ihnen eröffnet, ihre bisherigen Diagnosen außer Acht lassen zu können. Stattdessen lenkt er ihren Blick auf die möglichen Ursachen ihrer Sorgen und Nöte. Denn jene Diagnosen helfen dem Einzelnen nicht weiter, indem sie lediglich Symptome bezeichnen. 

Bei psychischen Problemen, gleich welcher Art, benötigt ein Mensch Unterstützung, um einen besseren Zugang zu sich selbst zu erlangen. Wenn dabei die schmerzlichen Erlebnisse erkannt und das eigene Leid akzeptiert werden, ist dies ein erfolgversprechender Schritt auf dem Weg der Heilung.

Der Blick in unser Inneres lohnt sich ebenso bei zahlreichen körperlichen Krankheiten und Leidens-Symptomen, denn die Ursachen sind häufig in inneren Konflikten zu finden. 

Wie werden Traumata weitergegeben?

Erlebt ein Mitglied einer Familie ein Trauma, liegt dieses meist wie ein Schleier über der gesamten Familie. Die durch das Trauma hervorgerufene Überlebenshaltung wird von allen als normal angesehen und kaum mehr hinterfragt. Vielfach ist es traumatisierten Menschen nicht möglich, zu ihrem Nachwuchs einen ausreichend emotionalen Kontakt aufzubauen und ihnen geistige Orientierung und echte Liebe zu geben. 

Für die Entwicklung eines Kindes sind die Bindung an einen Erwachsenen sowie die Erfahrung einer engen und warmherzigen Beziehung jedoch lebenswichtig. Nur so entstehen das Urvertrauen und die Sicherheit, die ein kleines menschliches Wesen braucht, um die Welt zu erkunden.

Fehlt diese Art von Bindung, wächst das Kind ohne echte Bezugspunkte und hungrig nach Nähe, Berührung und Kommunikation auf. Es ist verunsichert und identifiziert sich mit dem, was ihm von außen entgegengebracht wird. Das Kind nimmt die emotionalen Strömungen seiner Umgebung wie ein Schwamm auf.

Da ein Kind von seinen Bezugspersonen abhängig ist, kann es sich nicht effektiv vor deren bedrohlichen Gefühlen wie Angst, Wut oder Scham schützen. Anstelle von Sicherheit vermittelnden Bindungsgefühlen erlebt es die elterlichen Trauma-Gefühle, als wären es seine eigenen. So nimmt es traumatische Sequenzen aus deren Leben auf und identifiziert sich damit. Haben Kinder direkten Kontakt zu ihren Großeltern, übernehmen sie manchmal ebenso deren Ängste und Ohnmachtsgefühle.

Zuweilen werden Kriegsenkel von Albträumen geplagt, in denen Szenen aus dem Leben ihrer Eltern oder Großeltern auftauchen. Die Träume können sowohl von schreckenerregenden Ereignissen der Vorfahren handeln als auch mit Bildern angefüllt sein, in denen hauptsächlich deren unverarbeiteten Trauma-Gefühle wiederholt werden. Das Wissen um die Weitergabe von Traumata hilft uns, solche Botschaften einzuordnen und zu verstehen.

Trauma und Überlebensstrategie

Bei emotionaler und geistiger Überforderung arbeitet unsere Psyche nicht ihrer eigentlichen Aufgabe entsprechend. Um mit den traumatischen Erlebnissen halbwegs normal weiterleben zu können, spalten wir die dazu gehörenden Gefühle ab und halten sie möglichst weit von unserem Alltagsbewusstsein fern. Damit dies gelingt, entwickeln wir unterschiedlich ausgeprägte Überlebensstrategien, die auf den ersten Blick selten zu erkennen sind. Für die persönliche Entwicklung ist es enorm wichtig, sie zu entlarven. 

Franz Ruppert erklärt: „Immer, wenn ein Mensch dogmatisch wird, kann man davon ausgehen, dass eine Überlebensstrategie dahintersteckt. Deutlich wird es, wenn behauptet wird, es gebe keine andere Wahl und neue Möglichkeiten erst gar nicht in Erwägung gezogen werden. Derartige Denkweisen widersprechen der menschlichen Natur, die in ihrem Kern völlig offen ist und Variationen liebt. Damit ein Mensch aus seinen Erfahrungen lernen und sich weiterentwickeln kann, benötigt er diese Offenheit.“

Überlebensstrategien zeigen sich aber auch in weniger offensichtlichen Situationen: Drogenkonsum sowie eine ungesunde Lebensweise, mit der man seinen Körper schädigt, Selbstkontrolle und Kontrollzwang, Beziehungssucht, immer im Außen zu sein und ständig etwas erleben zu wollen oder sich ablenken zu müssen. 

Menschen, die das eigene Leid kleinreden, beschönigen oder nicht wahrhaben wollen, handeln meist aus einer unbewussten Überlebensstrategie heraus. Ist jemand ausschließlich mit dem Verstand präsent und hat keinen Zugang zu seinen Gefühlen, ist dies ebenfalls ein Kennzeichen einer Überlebensstrategie.

Menschen, die ständig über Stress klagen, können häufig gar nicht ohne ihn leben. Durch die permanente Anspannung und ihre beständige Aktivität stecken sie in einem chronischen Übererregungsmodus, der sie nicht zur Ruhe kommen lässt. Dahinter verbirgt sich die Angst vor schmerzhaften Erinnerungen und Gefühlen, die hochkommen könnten, sobald Entspannung eintritt.

Manchmal weiß der Körper sich nicht mehr anders zu helfen und sendet Signale aus, die sich in verschiedenen Symptomen zeigen. Werden diese Beschwerden lediglich behandelt und nicht als Warnzeichen wahrgenommen, hat das gravierende Folgen für die Gesundheit. Dann besteht die Gefahr von Krankheiten, die sich immer weiter verfestigen und zu chronischen Erkrankungen entwickeln können, solange die dahinterliegende Ursache nicht erkannt wird.

Anliegen-Aufstellung 

Die Anliegen-Methode von Prof. Dr. Franz Ruppert bietet für Klienten eine intensive Auseinandersetzung mit sich selbst und hilft dabei, traumatisierte Anteile wieder zu integrieren. Sie gibt Aufschluss über die Ursachen von Problemen, Krankheiten sowie Lebenskrisen  und kann in der Gruppe oder in Einzelterminen stattfinden.

Der Anliegen-Einbringer schreibt sein Anliegen, d. h. das Problem, welches er gern lösen möchte, auf. Dabei erzählt er nicht seine Lebensgeschichte, sondern notiert nur sein Anliegen, das er in drei Informationseinheiten (Elemente wie Wörter und Zeichen) fasst, z. B. „Warum Bluthochdruck?“. Das sind drei Elemente, zwei Wörter und ein Satzzeichen.

Danach wählt der Anliegen-Einbringer Teilnehmer aus, die als Resonanzgeber stellvertretend für das Element fungieren. Sie fühlen in das jeweilige Element hinein, finden die Grundstruktur und Dynamik des Anliegens heraus und teilen ihre Erfahrungen mit. Bei Einzelterminen übernimmt der Therapeut die verschiedenen Elemente und wechselt die Positionen. 

Daraus entwickelt sich ein Prozess, der wie ein Spiegel Teile der inneren Welt des Betroffenen abbildet. Dabei werden die Überlebensstrategien der gesunden und der traumatisierten Anteile sichtbar. Je nach Anliegen können tiefe emotionale Prozesse in Gang gesetzt oder neue Erkenntnisse und Einsichten gewonnen werden. 

Fragen zur Vertiefung 

  • Welchen Bedingungen waren meine Eltern/Großeltern in ihrer Kindheit ausgesetzt?
  • Welche Strategien haben meine Vorfahren entwickelt, um zu überleben?
  • Welche Überlebensstrategien könnte ich übernommen haben?
  • Wie gehe ich mit dem Thema Trauma um? Was denke ich über Traumata? Kann ich offen darüber sprechen?  

Anregung

Stelle dir vor, wie sich dein Leben verändert, sobald du deine Überlebensstrategien aufgedeckt hast. Wie ist es, aus dem Überlebensmodus auszusteigen und endlich dein Leben zu leben?

Dieser Artikel ist ein Auszug aus dem Buch: Kriegsenkel: Trauma erkennen, verstehen und heilen. 

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3 Kommentare zu „Trauma ist keine Krankheit“

  1. Liebe Maria,
    ich fand es damals sehr erleichternd, zu hören, dass Trauma keine Krankheit ist, sondern eine verletzte Seele, die versucht, mit der Situation zurecht zu kommen. Die Traumafolgen können sich allerdings im Körper manifestieren und Krankheiten hervorrufen.
    Wichtig ist, zu erkennen, wie wir Seelenanteile durch Trauma abspalten. Das Schöne ist ja, dass wir sie wieder zu uns holen und integrieren können, wenn wir bereit sind, hinzuschauen. Diese Fähigkeit, gewisse Anteile abzuspalten, hat uns einst das Leben gerettet. Daher mag ich es, diese zu würdigen und für diese Fähigkeit dankbar zu sein.
    Mit diesen Gedanken fühle ich mich nicht mehr als Opfer, sondern übernehme Verantwortung für mein Leben. Das empfinde ich als befreiend.

    1. Danke Cornelia,
      danke für Deine Gedanken und Erfahrungen.
      Krank zu sein hat für mich nichts mit Opfer sein zu tun, wir könnten es auch neutral Energieflussdisbalancen nennen,
      die wieder in Harmonie kommen wollen.
      Wichtig ist, dass es in unseren Gemeinschaften Wissende/Heiler/Therapeuten/… gibt, die sich damit auskennen wie Leib, Geist und Seele
      gemeinsam wirken
      und verloren gegangene, geraubte, abgespaltene oder auch in Not weggegebene Anteile wieder zurückholen zu können, bzw. uns begleiten beim Hinsehen/Integrieren und dies für jeden frei zugängig ist.
      Im jetzigen System leider nicht selbstverständlich,
      doch wir sind ja mittenmang im Wandel.

  2. Herzlichen Dank für diesen umfassenden Bericht,
    dass Traumata nicht als Krankheiten anerkannt werden,
    sogar ja epigenetische Änderungen hervorrufen
    ist sehr traurig und für mich nicht
    das menschliche Leben und Sein fördernd.
    Fast alle Völker dieser Erde haben irgendwelche
    ererbte und erworbene Traumata und es wäre schön,
    wenn dem Heilungs-Thema Priorität zu geben
    zum Wohle der gesamten MENSchheit.

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