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Selbstbegegnung

Lösungen finden mit der Anliegen-Aufstellung (nach Prof. Dr. Franz Ruppert)


Ein Beitrag von Elisabeth Kukulenz

Als Therapeutin hatte ich mich schon viel mit den Erfahrungen der Kriegskinder und Kriegsenkel beschäftigt. Mit meiner Aufgabe als Co-Moderatorin beim 1. Online-Kriegsenkel-Kongress eröffneten sich mir nochmals ganz neue Perspektiven. Wie sehr diese Arbeit mein Bild von den Traumfolgen erweitern würde, ahnte ich da noch nicht.

Ich lernte in vielen spannenden Gesprächen  viele neue Sichtweisen von Fachleuten kennen. Besonders hat mich die Methode von Prof. Ruppert beeindruckt, die Anliegen-Aufstellung IoPT (Identitätsorientierte Psychotraumatherapie), die mir sehr vielversprechend erschien.

Da ich mit Aufstellungen schon viel gearbeitet hatte wollte ich gleich eigene Erfahrungen machen und entschied, eine Fortbildung in dieser Methode zu absolvieren. Die Erfahrungen, die ich seither gemacht habe sind sehr bewegend.

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Bedürfnis nach Verbundenheit

In jeder Aufstellung – ob eigene, als Resonanzgeber oder als Begleiterin – wurde mir immer mehr verständlich, wie tief die grundlegenden Bedürfnisse des Menschen nach Verbundenheit sind und welche Versuche unternommen werden, diese zu erreichen.

Als wir auf die Welt kamen, waren wir extrem verletzlich. Wir brauchten das Gefühl von Willkommen-Sein sowie Liebe und Schutz. Unsere Grundversorgung erlebten wir in der Verbundenheit mit der Mutter, die uns als kleines Wesen neun Monate in sich getragen hat. Verbundensein und Wachsen sind eins. Und diese Umhüllung und Versorgung benötigen wir auch nach der Geburt; das Erleben von Verbundenheit brauchen wir ein Leben lang. Unsere tiefsten menschlichen Bedürfnisse sind die nach Nähe, nach Miteinander, nach Verstanden werden, und wir haben in unserem gesunden Ich die Fähigkeiten dazu.

Durch Kriegserlebnisse werden diese Fähigkeiten und das Vertrauen in das Menschliche auf verschiedenste Weise gestört. Diese Störung bleibt, solange sie nicht verarbeitet und geheilt ist und wirkt sich auf die weitere Beziehungsfähigkeit aus. Damit kann auch Lebensenergie nicht ausreichend fließen, sie ist blockiert. 

So können traumatisierte Menschen z.B. tiefe Verbundenheit nicht mehr zulassen. Diese ist aber das grundlegende Bedürfnis eines Kindes, um ein gesundes Ich zu entwickeln. Wenn dieses Bedürfnis nicht erfüllt wurde, dann wird auch der natürliche Energiefluss des Kindes gestört. Die Folge ist eine Spaltung des Ich, das ursprünglich einen gesunden und kraftvollen Lebenswillen hat, zu drei Grundstrukturen:

  • das Gesunde Ich wird reduziert, verborgen, eingeschränkt
  • das schmerzliche, nicht aushaltbare Erleben, die schmerzlichen Gefühle werden unterdrückt im Traumatisierten Ich
  • das Überlebens-Ich, das dafür sorgt, das die Grundbedürfnisse erfüllt werden
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Das Überlebens-Ich

Da die Verbundenheit so wichtig für das kleine Kind ist – sein Überleben ist sogar davon abhängig -, tut es alles, um die Nähe zur Mutter nicht zu verlieren. Und die erste Beziehung ist und bleibt, die zur Mutter, die das Kind über alles liebt. Später ist es dann auch die Beziehung zum Vater und zu anderen Menschen, in der das Kind Verbundenheit erleben will.

Das ist das Wunderbare in der menschlichen Seele, dass sie es schafft, alles zu tun, um mit den unmöglichsten Situationen kreativ fertig zu werden. Oft zu einem hohen Preis. Bleiben die Überlebensstrategien und die Abspaltung bestehen, kann dies ein Leben lang Leid bedeuten. Denn die enorme Fähigkeit, auch unter schwierigen Bedingen zu überleben, kann an den einst lebensrettenden Mustern festhalten.

Und das geschieht vor allem, wenn die Suche nach Nähe und Verbundenheit die Entwicklung eines stabilen und selbstbestimmten Ich verhindert.

Auswirkungen auf den eigenen Lebensplan

Die Entwicklung des gesunden Ich-Anteils kann nicht von der eigenen Lebensenergie bestimmt werden, die erstarrt und zu Energiemuster und dann zu Überzeugungen werden. Diese Vorgänge erzeugen Stress: seelisch, energetisch, mental und körperlich. Menschen mit diesen frühen ungelösten Stresserfahrungen sind von einem Entwicklungstrauma betroffen und können nicht wirklich sich selbst sein.

Mögliche Folgen daraus können sein: 

  • Leben einer fremden Identität
  • Unklarheit der eigenen Gefühle
  • lebenslange symbiotische Verstrickung mit den Eltern (auch über deren Tod hinaus)
  • symbiotische Verstrickung mit anderen (Partner, Freunde)
  • psychische und körperliche Störungen aller Art
  • Das Gefühl von Fremdheit, Fremdbestimmung und Orientierungslosigkeit

Auswege und Befreiung des gesunden ICH

Das gesunde Ich ist trotz aller Störungen immer auch lebendig, z. B. in Momenten der Freude und Liebe. Die Anliegen-Aufstellung ist auch eine Selbstbegegnung, bei der die Teilaspekte des eigenen Erlebens von anderen Menschen gespiegelt werden. Wir begegnen durch die Botschaften der anderen Teilnehmer  abgespaltenen Anteilen, die dadurch erkannt werden.

Die abgespaltenen Energien werden nun integriert und stehen uns wieder als lebendige Kraft zur Erfüllung unserer Bedürfnisse und Lebensziele zur Verfügung.

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Wie kann man sich eine Anliegen-Aufstellung vorstellen?

Jeder Mensch, der Unterstützung sucht, formuliert sein aktuelles Anliegen, zu dem er sich Klärung wünscht.  Das ist der erste Schritt, sich bewusst zu werden, was gerade wichtig ist. Das kann eine Frage sein, ein Symptom, ein Wunsch, ein Gefühl … Zum Beispiel: „Warum fühle ich mich morgens immer so traurig?“ Aus diesem Anliegen werden drei Begriffe ausgewählt, z. B. Ich morgens traurig. Dabei ist das Ich wichtig, denn es geht ja um eine Selbstbegegnung. Diese Begriffe werden auf jeweils einem Zettel geschrieben. Aus den Teilnehmern werden Stellvertreter gewählt, die bereit sind, mit diesen Begriffe in Resonanz zu gehen. 

Sie fühlen sich dann in das ein, was auftaucht, ob Bilder, Worte, Gefühle. Dadurch entsteht eine Dynamik, die im Laufe des Prozesses aufzeigt, auf welche Weise die Beziehung zum eigenen Ich blockiert ist, eventuell indem sich das Ich unwohl fühlt und vom Aufsteller abwendet.  Ziel ist es, das Ich, den Kern des eigenen Lebens und Erlebens, vom traumatischen Erleben und den Fremdeinflüssen zu befreien. Dann kommen wir mehr und mehr zur wirklichen Essenz unseres Seins.

Manchmal ist es  erschreckend zu erkennen, wie sehr wir in Konzepten gefangen und dadurch von unserem Ich getrennt sind und wie wir fremde Anliegen zu unseren eigenen gemacht haben. Die uneingeschränkte Begegnung mit dem eigenen Ich ist dann ein unbeschreibliches Erlebnis der Freude.

Es wird deutlich, wie sehr die durch traumatische Familiengeschichten verloren gegangene Bindungsfähigkeit das Leben bestimmt  –  aber auch wie beglückend es ist, durch die Erkenntnis der Zusammenhänge endlich die Schatten der Vergangenheit hinter sich zu lassen.

Wir brauchen keine Angst mehr vor den Traumata der Geschichte zu haben, wir können sie lösen.

Nächster Termin zur Selbstbegegnung (nach Prof. Dr. Franz Ruppert)

Das nächste Seminar findet

am 19.11. 2022 

in Kassel statt.

Info und Anmeldung  bei Elisabeth unter: lebenswertepraxis@outlook.de

4 Kommentare zu „Selbstbegegnung“

  1. Nach dem Suizid meines 35jährigen Sohnes 2013 plagte mich monatelang ein heftiger Ischiasschmerz rechts, der auch einen sechswöchigen Aufenthalt in einer Psychosomatischen Klinik überdauerte. Nach 1,5 Jahren fast unerträglicher Schmerzen hatte ich das Glück, in einem Seminar mit Franz Ruppert eine Anliegenaufstellung machen zu können.

    Mein Anliegen hieß: Was will mein rechter Schmerz mir sagen? Die Stellvertreterin für meinen Schmerz stürzte entsetzt zu Boden mit den Worten: Das IST unerträglich! Ich persönlich schaute ungerührt zu und „vergaß“, meinen Schmerz zu befragen! Nach gefühlt langer Zeit bewegte ich mich auf den Schmerz zu, kniete vor ihm nieder, streichelte ihn und schaute ihm in die Augen. Da entspannte sich etwas… Zwar „fehlte“ , laut Franz, in meinem Anliegen das „Ich“, doch in der Folge der Aufstellung war und blieb mein Ischiasschmerz ohne jede weitere Intervention verschwunden.

    Wie in jeder Art systemischer Aufstellung haben sich Energien gezeigt, deren Wirkung uns unbewusst sind. Ich fühle tiefen Respekt und Dankbarkeit für diese Arbeit.
    Meine Erfahrung habe ich deshalb so offen und persönlich geschildert, um dich Leserin und dich Leser zu ermutigen, deinem Anliegen Ausdruck zu verleihen!

    Mit Liebe: Christiane

  2. Grüß Gott, alles was ich in diesen Rundbriefen lese, ist wahr. Die Aufklärungen, das enorme heutige Wissen. Ich hätte niemals Kinder bekommen sollen. Ich habe mit Sicherheit 40 Jahre unsere Geschichte aufgearbeitet bis hin zur Erschöpfung neben Beruf, Haushalt, Existenzaufbau und Eltern sein. Mich haben zwar Ersatzkinder gefunden, denen nutzt mein heutiges Wissen. Unsere Kinder haben uns vor ca. 30 Jahren verstoßen. Das Tragische ist, dass unsere Tochter Ruth in Zeitungen Interviwes gibt, in denen unserer aufrichtigen endlosen Bemühungen entwertet werden . Sie strahlt scheinbar glücklich vom TV. Unsere Kinder interessiert offensichtlich nicht, was ihre Eltern, Urgroßeltern und Großeltern durchgemacht haben und wessen Kinder sie sind. Ich weiß noch nicht, wie kann ich meinen Schmerz loslassen, wie werde ich „hinübergehen“ können in Frieden, Vergebung und Gelassenheit. Das ist mein innigster Wunsch. Vielleicht gibt es eine treffsichere Antwort ?

    1. erwartest du von deinen Kindern, daß sie deinen Schmerz sehen und anerkennen und trösten (heilen) sollen? kannst und willst du den Schmerz deiner Kinder sehen, anerkennen und trösten? als Elternteil war das einmal deine Aufgabe, vielleicht ist die für deine Kinder unerfüllt geblieben. hörst du deinen Kindern wirklich zu und bist an ihren Gefühlen interessiert oder erwartest du, daß sie dir zuhören und sich für deine Gefühle interessieren? du bist die Mutter.
      alles gute

  3. Liebe Elisabeth Kukulenz,

    das freut mich sehr zu lesen, weil ich die Begeisterung teile. Auch ich war sehr von eurem Interview mit Dr. Franz Ruppert bewegt, auch von der humorvollen, authentischen Art. Danke, dass du deine guten Erfahrungen mit der Methode teilst. Ich finde das so schön, dass immer mehr Menschen Wissen und Erfahrungen zum Thema sammeln.

    Das macht Hoffnung für unsere schöne Welt. Und dann ist es noch dazu interessant zu hören, wenn jemand auch persönliche Erlebnisse mit einer bestimmten Methode gemacht hat, mit der man liebäugelt ; ).

    Danke und herzliche Grüße, Brissa

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