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Du weißt ja gar nicht, wie gut du es hast

Die Schauspielerin und Autorin Maria Bachmann ist einem großen Publikum bekannt. Mit ihrem Buch „Du weißt ja gar nicht, wie gut du es hast. Von einer, die ausbrach, das Leben zu lieben“ spricht sie den Menschen der Nachkriegs- und Kriegsenkel-Generation aus dem Herzen. 

Ihre Eltern betonten immerzu, sie hätten „nur eine ganz normale Kriegserfahrung“ hinter sich. Als Maria ihren Vater bat, ihr vom Krieg zu erzählen, sagte er abwehrend: „Das war schlimm. Ach Mädle, das ist vorbei.“ Über den Krieg wollte er nicht reden, er erwähnte lediglich ein paar Episoden aus der Zeit während seiner britischen Kriegsgefangenschaft in Ägypten. 

Umgeben von Sprachlosigkeit, Depression und Pflichterfüllung, den Folgen einer autoritären Erziehung und den Auswirkungen des Zweiten Weltkrieges, wuchs Maria in einem strengen Elternhaus auf. Trotz des enormen Widerstandes ihrer Eltern gelang es ihr, eine erfolgreiche Schauspielerin zu werden. 

Von den Problemen der Kriegsenkel hatte Maria zwar gehört, sah sich davon aber selbst nicht betroffen. Die wenigen Erzählungen der Eltern ließen in ihr den Eindruck entstehen, dass sie verschont worden wären und keinen Schaden davongetragen hätten. Anders als bei ihren Freunden, hatte niemand in der Familie flüchten müssen oder dem Nationalsozialismus angehangen. Erst an einem Wendepunkt in ihrem Leben wurde ihr bewusst, selbst ein Kriegsenkel zu sein. 

Ergreifend und überaus humorvoll erzählt Maria Bachmann aus ihren ersten Lebensjahren und beschreibt, wie sie alle Widrigkeiten bewältigte, erfolgreich wurde und letztendlich durch eine tiefe Krise zu sich selbst fand. Sie bricht ein Tabu, indem sie uns schonungslos an ihren inneren Erlebnissen und Gefühlen teilhaben lässt. Mit ihrer Geschichte möchte sie inspirieren, die eigene Vergangenheit zu reflektieren, Sehnsüchte wahrzunehmen und Träume zu leben. 

Ringen um Liebe und Anerkennung

Wie bei vielen Menschen der Kriegsenkel-Generation nahmen in Marias Kindheit diffuse Ängste, Fremdbestimmtheit, Selbstzweifel und mangelnde Selbstwertgefühle Teile einer fragwürdigen „Normalität“ ein. Als kleines Mädchen bemühte sie sich vergeblich um die Liebe und Aufmerksamkeit von Mutter und Vater. Geprägt von traumatischen Erlebnissen aus Kriegszeiten konnten sie auf die Gefühle von Maria nicht angemessen eingehen und ihre Liebe nicht zeigen. Sie waren für Maria unnahbar, doch hinter ihrer Härte erkannte das Mädchen deren tiefe Verzweiflung. Mit allerlei Mitteln versuchte sie, Vater und Mutter zu trösten. 

Ausgesprochen schwer fiel es ihr, die Reaktionen der Eltern einzuschätzen. Ihr gelang es nicht, genau herauszufinden, wann und wodurch die beiden ärgerlich wurden. Um ihnen zu genügen und nicht negativ aufzufallen, lernte sie, sich zu verbiegen und zu verstellen.

Maria beschreibt die Strategie ihrer vergeblichen „Liebesmüh“: „Ich malte im Kopf eine Landkarte von ihnen, um mich zu orientieren. Mit der Zeit lernte ich, sie besser zu lesen. So hatte ich eine grobe Richtung, wie ich mich geben musste, um das Schlimmste zu verhindern. Ich fuhr meine Spürantennen aus und ertastete damit, wie ich am besten für sie sein sollte. Ich musste schnell sein, schneller als die Erwachsenen. Ich musste vor ihnen wissen, was sie von mir wollten. Das war das Einzige, was mir einfiel, um nicht unangenehm aufzufallen.“ (Aus ihrem Buch:„Du weißt ja gar nicht, wie gut du es hast. Von einer, die ausbrach, das Leben zu lieben“, 2019, S. 13)

Einschränkende Leitsätze 

In ihrer Kindheit sah sich Maria mit zahlreichen negativen Denkweisen und Glaubensmustern der Erwachsenen konfrontiert. 

– Das kannst du nicht! 

– Schäme dich!

– Stell dich nicht so an! 

– Sei zufrieden mit dem, was du hast! 

– Du wirst dich noch umgucken!

– Was glaubst du, wer du bist?

– Sei nicht so eingebildet!

– Tu dich nicht hervor!

– Die anderen wollen dich nur ausnutzen!

– Du hast keine Ahnung vom Ernst des Lebens!

Diese und ähnliche Leitsätze hatten in der Erfahrungswelt ihrer Eltern durchaus eine Berechtigung. Ihre Mutter erzählte ihr von der Gefahr, erschossen zu werden, wenn sich jemand negativ äußerte oder sich hervortat. 

Für Marias Mutter war die Mahnung: „Tu dich nicht hervor“ unter diesen Umständen lebensrettend. Für ihre Tochter ergab er keinen Sinn, sondern stand ihrer persönlichen Entwicklung im Weg.

Der Beginn einer Selbstbefreiung

Von Kindesbeinen an sehnte sich Maria danach, Schauspielerin zu werden. Eines Tages nahm sie allen Mut zusammen und erzählte ihren Eltern von ihrem Wunsch. Doch anstatt Unterstützung zu erhalten, wurde sie mit Vorwürfen und Beschuldigungen regelrecht bombardiert. Wer ihr denn diesen Floh ins Ohr gesetzt hätte und für was das denn gut sein solle, fragten sie. Maria sei größenwahnsinnig und hätte keine Ahnung vom Ernst des Lebens, schimpften sie. Ihre Eltern stürzten angesichts dieser Vorstellung in eine tiefe Krise. 

Ungeachtet des Protestes schaffte Maria es, diesen Traum zu verwirklichen. Sie befreite sich aus der Enge der Kleinstadt, dem beklemmenden Einfluss der Kirche und der elterlichen Strenge – und trat hinaus in die große weite Welt. Dieser Schritt kostete sie enorm viel Überwindung, denn es kam ihr vor, als ließe sie ihre Eltern im Stich. 

Dennoch blieb die junge Frau standhaft, folgte ihrer Sehnsucht und wurde schließlich eine erfolgreiche Schauspielerin. Allerdings konnte sie ihren Erfolg nicht wirklich genießen; die erhoffte Lebensfreude blieb aus. Immer häufiger bekam sie vor den Dreharbeiten Panikattacken. An diesem Punkt angelangt, holte sie sich professionelle Unterstützung. 

Die eigene Not erkennen und zulassen

Es brauchte einige Zeit, bis Maria mithilfe eines Therapeuten die Ursache ihrer Probleme mit den Kriegserlebnissen ihrer Eltern in Verbindung brachte. Im Gegensatz zu den „typischen“ Kriegsenkel-Problemen traten ihre Defizite weniger offensichtlich hervor. Sie wusste: Vater und Mutter hatten ihr Bestes gegeben und „hätten gar nicht anders gekonnt“. Damit nahm sie die Eltern in Schutz und überging sich selbst. Ihre Angst, ihnen unrecht zu tun, hinderte sie daran, ihr eigenes Leid anzuerkennen.

Solche Gedanken sind kennzeichnend für die Kriegsenkel-Generation: den eigenen seelischen Schmerz nicht weitergehend zu beachten, da dieser im Vergleich zu den Dramen der Eltern weniger gravierend erscheint. Oft genug wurden viele von uns ermahnt, wie gut es uns doch gehen würde. Irritiert von derartigen Sprüchen wagten wir nicht, diese zu hinterfragen. Wir lernten, dass es verkehrt ist, Bedürfnisse und Wünsche zu haben. 

Sind wir hingegen bereit, Selbstverantwortung zu übernehmen und uns von den traumatischen Belastungen zu lösen, besteht der nächste Schritt darin, den Blick auf uns selbst zu richten und unsere eigene innere Not einzugestehen. Angesichts unserer unerfüllten Bedürfnisse kommen wir bei dem oftmals schmerzhaften Abnabelungsprozess möglicherweise mit Gefühlen von tiefer Trauer oder unbändiger Wut in Berührung.

Unbewusst vermeiden wir lieber diesen Prozess, indem wir unsere Eltern mit beschwichtigenden Gedanken wie „sie hatten es früher so schwer“, „sie können auch nichts dafür“ oder „sie haben sich immer bemüht“ verteidigen. Mit solchen Rechtfertigungen, so zutreffend sie auch sein mögen, verhindern wir es, uns mit unserer eigenen Wunde auseinanderzusetzen. 

Selbstbestimmung

Um Heilung zu erlangen, ist es darüber hinaus unumgänglich, uns selbst wertzuschätzen und uns zu fragen: Was hätte ich als Kind gebraucht? Was hat mir gefehlt, was hätte ich mir gewünscht? Vielleicht wäre es mehr Halt und Zuspruch, mehr Unterstützung und Verständnis, mehr Zärtlichkeit und mehr Nähe gewesen?

Dabei dürfen solche Fragen keinesfalls mit Egoismus verwechselt werden. Sie sind außerordentlich wichtig, um die eigenen Bedürfnisse genauer kennenzulernen. Erst dann sind wir in der Lage, uns selbst zu geben, was uns in unserer Kindheit gefehlt hat. Dazu stehen uns heutzutage etliche Möglichkeiten zur Verfügung, z. B. die Unterstützung eines erfahrenen Therapeuten in Anspruch zu nehmen, den Austausch mit anderen zu pflegen oder sich etwas Gutes zu gönnen. 

Dies ist der Beginn von Selbstbestimmung, Befreiung und Selbstermächtigung. Wir erkennen: Unsere Eltern konnten nicht anders, dennoch gibt es keinen Grund, uns weiterhin selbst klein zu halten und einzuschränken.

Das Bedürfnis, die Eltern schützen zu wollen, schwindet und wird von Gefühlen tiefen Verstehens abgelöst. Durch diesen Prozess wachsen wir innerlich und können ihnen anschließend auf einer Erwachsenen-Ebene begegnen.

Warum ist der Rückblick so wichtig?

Beschäftigen wir uns mit dem Kriegsenkel-Thema, treffen wir immer wieder auf Menschen, die der Ansicht sind, man solle doch nicht „in der Vergangenheit wühlen“, sondern im Hier und Jetzt leben. Aber mit dieser Annahme wird etwas Wesentliches übersehen.

Sich der Vergangenheit zuzuwenden, bedeutet nicht, die schmerzhaften Erlebnisse ständig aufs Neue durchzugehen oder etwa Schuldige zu suchen. Im Gegenteil: Es geht darum, sein Leben zu verstehen, Verantwortung zu übernehmen, sich mit der Vergangenheit zu versöhnen und Frieden zu finden. 

Durch die Auseinandersetzung mit der Familiengeschichte bringen wir Licht in das Dunkel und schließen Lücken, sodass ein Gesamtbild entstehen kann. Maria erlebte es als ein „Etwas-wieder-ganz-machen“ und holte damit verborgene Anteile von Mut, Kraft und Liebesfähigkeit zu sich zurück.

Mit der Aufarbeitung ihrer Kindheit fand Maria Bachmann den Schlüssel zu einem selbstbestimmten und erfüllten Leben. Ihre Botschaft lautet: Es ist nie zu spät, sich mit der Vergangenheit zu versöhnen und den eigenen Lebensweg in eine neue Richtung zu lenken. 

Fragen zur Vertiefung

  •  Stelle ich die Erwartungen anderer über meine eigenen Bedürfnisse?
  • Wo und wann passe ich mich an? Was ist der Grund dafür? Was könnte ich stattdessen tun?
  • Kann ich mich gut abgrenzen? Wenn nein, was hält mich zurück?
  • Welche Träume schlummern in mir? Was brauche ich, um sie zu verwirklichen?
  • Wann habe ich zum letzten Mal etwas Neues, Aufregendes gewagt?

Anregung

Schließe die Augen und stelle dir vor, wie dein Leben aussehen könnte, wenn du zu dir und deinen Bedürfnissen stehen und dein Verhalten selbst bestimmen würdest. Male dir diese Vorstellung in den schönsten Farben aus. Wie fühlt es sich an?

1 Kommentar zu „Du weißt ja gar nicht, wie gut du es hast“

  1. Liebe Maria, schon als ich dich im Kriegsenkel-Kongress hörte, ging mir das Interview sehr nahe.
    Ich kenne alle Glaubenssätze, mit denen ich mich klein hielt. Doch ich will das nicht mehr.
    Durch eine sehr beschämende Retraumatisierung in meiner spirituellen Körpertherapie-Ausbildung kam mein Kriegstrauma ca. 1994 an die Oberfläche, und gleichzeitig entstand mein Atelier für Ausdrucksmalen “ http://www.ausdrucksmalen-freiburg.de, in dem ich Menschen inspiriere, ihre Gefühle mit den vielfältigsten Farben auszudrücken und mit Worten in der Gruppe zu teilen. Ich fühle mich dadurch jung und alterslos mit meinen 81 Jahren. Ich kann heute sagen, dass sich die Aufarbeitung meiner heftigen Kriegsvergangenheit mehr als gelohnt hat. Nicht nur für mich, sondern auch für meine Kinder, Enkelinnen und alle Menschen, die ich begleiten darf.
    Herzliche Grüße Erika

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